Fakten Lebensmittelwerbung
Hier finden Sie seit Januar 2023 alle Informationen rund um das Thema Lebensmittelwerbung. Wir fügen koninuierlich Fakten hinzu.
Kein Zusammenhang zwischen Werbeausgaben und kindlichem Übergewicht
Ein Zusammenhang zwischen den Werbeausgaben für Lebensmittel und kindlichem Übergewicht gibt es nicht: Aus der KiGGS-Studie des RKI – die letzte fand 2017 statt – geht hervor, dass der Prozentanteil der übergewichtigen Kinder stabil bei 15 Prozent liegt, während sich die Werbeausgaben seit 2005 insgesamt erhöht haben.
Einblicke in das Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz – neuer Entwurf vom 28. Juni 2023
WEITERLESEN„Wir konzentrieren uns bei den Sendezeiten nun auf die Kinder-Primetime – also auf die Zeitfenster, in denen besonders viele Kinder sehr viel schauen“, sagte Bundesminister Özdemir der Rheinischen Post Ende Juni 2023. Mittlerweile wurde im Rahmen der Ressortabstimmung der vierte Entwurf für ein Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz (vorher KWG, jetzt KLWG) vorgelegt. Zeit für ein Update:
Was genau steht denn nun im neuen Entwurf des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetztes (KLWG)?
Ausschnitt KLWG-Entwurf, Fassung vom 28.06.2023
Nach § 4 Abs. 1 KWG-E ist es verboten, Lebensmittel zu bewerben, wenn sich die Werbung nach Art, Inhalt oder Gestaltung an Kinder richtet. Satz 2 versucht sich an einer nicht abschließenden Aufzählung von Beispielen. Diese Aufzählung stand in vorherigen Fassungen des KLWG in der Begründung und wurde nun in den Gesetzestext gezogen und etwas modifiziert. Dies verbessert den Entwurf an dieser Stelle allerdings nicht, weil weiterhin zahlreiche Unklarheiten bestehen: Handelt es sich bei figürlichen Produkten wie Osterhasen oder bunten Lebensmitteln generell um „eine Kinder ansprechende Darstellung“? Reicht bereits die Farbgebung einer Werbemaßnahme aus? Welche weiteren Varianten kommen in Frage, da die Aufzählung nicht abschließend ist?
§ 4 Abs. 2 KLWG-E sieht weiterhin vor, dass Werbespots im Fernsehen zu bestimmten Uhrzeiten verboten sind, auch wenn sie sich ihrer Art nach nicht besonders an Kinder richten. Diese Sendezeitbeschränkung soll für sämtliche Lebensmittel gelten, die nach der Anlage des KLWG-Entwurfs zu viel Zucker, Salz oder Fett enthalten – und zwar unabhängig von der Gestaltung der Werbemaßnahme. Die Regelung umfasst also auch Werbung, die sich an Erwachsene richtet – z.B. ein Werbespot für Goudakäse, der keinerlei kinderaffine Inhalte oder Gestaltungsmerkmale aufweist.
Die jetzt vorgenommenen Anpassungen bei der vorgesehenen Sendezeitbeschränkung ändern nichts daran, dass weiterhin offensichtlich Erwachsene in der Primetime die Zielgruppe des Werbeverbotes sein soll. Auch hier besteht weiterhin eine deutliche Überschreitung des Koalitionsvertrages, der von Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige spricht. Die Werbesatzung der Landesmedienanstalten definiert Kindersendungen als Sendungen, die sich nach einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung von Inhalt, Form und Sendezeit überwiegend an unter Vierzehnjährige wenden. In der Primetime besteht die Zuschauerschaft aber z.B. zu 98 % aus Erwachsenen. Bei den hier vorgeschlagenen Sendezeitbeschränkungen wären ganze Sender- und Formatgruppen weiterhin im Verbotskreis.
Die minimalen Änderungen beim Thema „Bannmeile“ (Streichung von Freizeiteinrichtungen und Spielplätzen, § 4 Abs. 2 Nr. 3 KLWG-E) ändern im Ergebnis wenig, da es in Großstädten zahlreiche Schulen und Kitas gibt. Es handelt sich weiterhin um eine pauschale Verbotsregulierung jenseits werbeinhaltlicher Kriterien. Überdies hat diese Regelung nach wie vor nichts mit dem Koalitionsvertrag zu tun.
Unabhängig von all den genannten Punkten gilt weiterhin: Hier geht es um Fragen der Medienregulierung, die in der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegen.
Neue WHO-Empfehlungen – keine Evidenz für positive Auswirkungen von Werbeverboten auf die Kindergesundheit
WEITERLESENDie WHO hat mit dem Titel “Policies to protect children from the harmful impact of food marketing” neue Empfehlungen veröffentlicht – interessant ist, dass sie unter Punkt 6 in der Publikation explizit darauf hinweisen, dass es keine Belege für positive Auswirkungen von Marketingeinschränkungen auf den Gesundheitszustand von Kindern gibt. Kinder sind nach WHO-Definition übrigens alle unter 18-Jährigen.
Unter Punkt 6.1. Overarching research gaps / Impact of food marketing steht wörtlich “…no suitable studies were available for more distal outcomes (e.g. dental caries/erosion, body weight/BMI/obesity, diet-related NCDs).“ Im Kontext und übersetzt: „Ein Großteil der im Rahmen der systematischen Überprüfung ermittelten Forschungsergebnisse über die Auswirkungen des Lebensmittelmarketings auf Kinder konzentrierte sich auf proximale Ergebnisse (z. B. Lebensmittelpräferenzen, Lebensmittelauswahl oder beabsichtigte Auswahl, Nahrungsaufnahme); es sind nur wenige geeignete Studien für eher distale Ergebnisse verfügbar (z. B. Zahnkaries/Erosion, Körpergewicht/BMI/ Fettleibigkeit, ernährungsbedingte nichtübertragbare Krankheiten). Langfristige Studien, die die Auswirkungen des Lebensmittelmarketings auf distale Ergebnisse berücksichtigen, wären für die Aktualisierung dieser Leitlinie wertvoll.“ (Zur Erläuterung: Die Begriffe „proximal“ und „distal“ kommen aus dem medizinischen Bereich, „proximal“ ist eine anatomische Lagebezeichnung und bezeichnet Körperstrukturen, die näher zur Körpermitte liegen, das Gegenteil ist „distal“.) Die WHO sieht zudem erhebliche methodischen Herausforderungen beispielsweise in der Abgrenzung der Auswirkungen des Lebensmittelmarketings von einer komplexen Reihe anderer Faktoren, die zu Übergewicht, Adipositas und anderen nichtübertragbaren, ernährungsbedingten Krankheiten beitragen.
Unter Effectiveness of policies wird ergänzt, dass auch hier Studien zwar Effekte wie den Werbedruck betrachten, aber in keiner geeigneten Studie die die Auswirkungen auf den Gesundheitszustand wie oben beschrieben analysiert werden.
Einblicke in das Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz
WEITERLESENBundesminister Özdemir betonte es bei „hart aber fair“ am 17. April erneut: (Video, ab 1:04:00“) „[…] Alles, was gezielt Kinder anspricht und zu viel Fett, Zucker, Salz enthält – also Zuckerbomben klassischerweise beispielsweise – und sich an Kinder richtet, soll in der Zeit nicht mehr beworben werden.“ Auf die Rückfrage, wann sich denn Bratwurstwerbung an Kinder richten würde, weicht Bundesminister Özdemir aus. Auch in der weiteren Diskussion spricht er von „Werbung [..], wo ein Kinderbild drauf ist“ und behauptet, die Werbeindustrie habe einen „Pappkameraden“ aufgebaut, wenn sie sagt, es werde deutlich mehr Werbung beschränkt.
Was genau steht denn nun im Entwurf des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetztes (KWG)?
Ausschnitt KWG-Entwurf, Fassung vom 14.02.2023
§ 4 Abs. 2 KWG-E sieht vor, dass Werbemaßnahmen u.a. in Fernsehen oder Radio zwischen 6 und 23 Uhr verboten sind, auch wenn sie sich ihrer Art nach nicht besonders an Kinder richten. Diese Sendezeitbeschränkung soll also für sämtliche Lebensmittel gelten, die nach der Anlage des KWG-Entwurfs zu viel Zucker, Salz oder Fett enthalten – und zwar unabhängig von der Gestaltung der Werbemaßnahme. Die Regelung umfasst also auch Werbung, die sich an Erwachsene richtet – das gleicht einem Totalwerbeverbot. Die Behauptungen von Bundesminister Özdemir und seinem Ministerium, es handele sich nur um Werbung, die sich an Kinder richtet, ist daher schlicht falsch – erfasst wird auch ein Werbespot für Gouda, der keinerlei kinderaffine Inhalte aufweist und sich an Erwachsene richtet.
Ausschnitt KWG-Entwurf, Fassung vom 14.02.2023
Nach § 4 Abs. 1 KWG-E ist es verboten, Lebensmittel zu bewerben, die ihrer Art nach besonders dazu geeignet sind, Kinder zum Konsum zu veranlassen oder darin zu bestärken. Dies ist die von Bundesminister Özdemir und seinem Ministerium angesprochene Formulierung. Wie oben erläutert geht der Gesetzesentwurf aber über dies hinaus. Auch in Absatz 1 bestehen zahlreiche Unklarheiten, was bedeutet beispielsweise „Kinder zum Konsum zu veranlassen oder darin zu bestärken“? Dazu heißt es in den Erläuterungen:
Ausschnitt KWG-Entwurf, Fassung vom 14.02.2023
Hier bleiben weiterhin viele Fragen offen, z.B. ob prominente Sportler alle Fußballspieler sind – die ja ebenso bei Erwachsenen beliebt sind – und wie weit eine „im weitesten Sinne auf Kinder abzielende Gestaltung“ gefasst werden soll. Reicht hier bereits die Farbgebung von Werbemaßnahmen aus? Sind figürliche Produkte wie Osterhasen oder bunte Lebensmittel generell „besonders Kinder ansprechend“?
Rechtsgutachten von Prof. Dr. Martin Burgi stuft geplantes Werbeverbot für Lebensmittel als verfassungs- und europarechtswidrig ein
WEITERLESENProfessor Dr. Martin Burgi, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht der Ludwig-Maximilians-Universität München, stellt am Mittwoch, 26. April 2023, sein Gutachten zum Referentenentwurf zum Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft bei der der Jahrestagung des Lebensmittelverbands Deutschland vor. Das Gutachten wurde im Auftrag des Lebensmittelverbands und des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft erstellt.
Laut Gutachten enthält der Referentenentwurf ein komplexes System von Verboten, das die Werbung für etwa 70 bis 80 Prozent aller Lebensmittel erfassen würde. Zusätzlich zum sehr weitreichenden Teilverbot, das auch Werbemaßnahmen gegenüber Erwachsenen (etwa im Zusammenhang mit Sportereignissen oder in allen Fernsehsendungen zwischen 6 und 23 Uhr) betrifft, enthält es ein Totalverbot für Lebensmittelwerbung, die „ihrer Art nach besonders dazu geeignet ist, Kinder zum Konsum zu veranlassen oder darin zu bestärken“. Monetär betrachtet wird damit ein Bruttowerbevolumen in Höhe von rund 3,3 Milliarden Euro infrage gestellt.
Mit Inkrafttreten des Verbots wären bislang als vollkommen unproblematisch wahrgenommene Äußerungen der Alltagskultur untersagt und mit ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktionen belegt, so Burgi. Er kritisiert, dass es nach eigener Aussage des BMEL keine belastbaren Studien zur Wirkung von Werbeverboten für die als solche ja weiterhin erlaubten Lebensmittel gebe.
Nach Anwendungsbereich und Eingriffsintensität unterscheidet sich der Referentenentwurf laut Burgis Gutachten signifikant von vorherigen politischen Verlautbarungen im Koalitionsvertrag. Burgi kommt zu dem Ergebnis, dass der Referentenentwurf des BMEL verfassungs- und europarechtswidrig ist. Dies gilt sowohl für das adressatenunabhängige Teilwerbeverbot als auch für das Totalverbot bei Adressierung der Werbung an Kinder.
Prof. Dr. Martin Burgi kommentiert: „Statt einer evidenzbasierten Gefahrenprognose handelt es sich hier um eine reine Gefahrenvermutung ‚ins Blaue hinein‘. Auf Basis einer bloß gefühlten und bislang nicht belegten Gefahr derart weitreichende Freiheitsbeschränkungen vorzunehmen, ist – soweit ersichtlich – beispielslos.“
Was ist eigentlich das WHO-Nährwertmodell?
WEITERLESENDas Regionalbüro der WHO für Europa hat im Jahr 2015 ein Modell („WHO Regional Office for Europe nutrient profile model“, im Folgenden: WHO-Modell) veröffentlicht, in dem Kriterien für den Energiegehalt, Gesamtfettgehalt, gesättigte Fettsäuren, Gesamtzuckergehalt, zugesetzten Zucker, Süßungsmittel und Salz für insgesamt 17 Lebensmittelkategorien festgelegt werden. Im März 2023 hat die WHO die zweite Ausgabe des Nährstoffprofils veröffentlicht.
Das Modell wurde entwickelt, um festzulegen, für welche Lebensmittel gegenüber Kindern geworben werden darf und für welche nicht. Für bestimmte Produktgruppen sieht das 2015er Modell ein generelles Werbeverbot vor – und zwar ohne, dass es auf bestimmte Nährwertkriterien ankommt. Dies wurde im 2023er Modell geändert, danach gibt es zwar keine Verbote mehr für bestimmte Lebensmittelkategorien, die Grenzwerte sind jedoch so streng, dass de facto noch immer etwa 70 Prozent des Lebensmittelangebots von der Bewerbung ausgeschlossen sind.
Warum interessiert uns das 2015er-WHO-Modell?
Der derzeitige Entwurf des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes (KWG) von Bundesminister Özdemir sieht in der Anlage eine Einteilung von Lebensmitteln nach dem 2015er-WHO-Modell vor, das im Grundsatz für Werbung herangezogen werden soll, die sich an Kinder richtet. Einzige Ausnahme sind Säfte und Vollmilch, deren Bewerbung nicht von vorneherein ausgeschlossen ist. Totalwerbeverbote sind vorgesehen für die Lebensmittelkategorien 1 (Schokolade und Süßwaren, Müsliriegel, süße Aufstriche und Desserts) und 2 (Kuchen, süße Backwaren, und Backwarenmischungen), 4c (Energydrinks) und 5 (Speiseeis). Sämtliche Produkte, die unter diese Kategorien fallen, dürfen generell nicht beworben werden. Dies gilt unabhängig von deren Nährwerten, sodass beispielsweise auch zuckerfreie Hustenbonbons nicht beworben werden dürfen.
Was regelt das WHO-Nährwertmodell?
Das WHO-Modell erfasst jedwede Form der Werbung. Auf dieser Basis ist nach dem 2015er-WHO-Nährwertmodel nur für folgende Produktgruppen Werbung und Marketing erlaubt: frisches und gefrorenes Fleisch, Geflügel, Fisch sowie frisches und gefrorenes Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte. Ganze Produktkategorien werden von vornherein ausgeschlossen und als nicht vermarktungsfähig eingeordnet und damit mit einem Werbeverbot belegt, darunter u.a. Süßwaren und Gebäck. In Verbindung mit den Nährwertkriterien für alle anderen Produkte liegen, wie Studien zeigen, etwa 70 Prozent der jeweils untersuchten Produkte im Verbotsbereich, darunter z.B. auch Goudakäse. (Quelle)
Innerhalb der Produktgruppen werden Höchstwerte für Gesamtfett, gesättigte Fettsäuren, Gesamtzucker, Zuckerzusatz, Süßungsmittel, Salz sowie Energie, jeweils bezogen auf 100 Gramm, definiert. Nach dem 2015er-WHO-Modell hieße das beispielsweise: Frühstückszerealien mit mehr als 10 g Fett und/oder mehr als 15 g Zucker und/oder mehr als 1,6 g Salz auf 100 Gramm dürfen nicht beworben werden. Sofern Müsli unter diesen Werten liegt, darf es beworben werden.
In welchen Ländern wird das WHO-Nährwertmodell herangezogen?
Entgegen den Behauptungen verschiedener Kampagnenorganisationen (Hinweise auf Portugal, Spanien, Österreich z.B. hier), kommt das WHO-Modell derzeit ausschließlich und abgewandelt in Portugal zur Anwendung. In Österreich gab es lediglich eine Empfehlung der Ernährungskommission (diese kann allerdings keine Werbeverbote verhängen), in Spanien gibt es derzeit keine Regelungen, nur Diskussionen, (Quelle). Mit dem WHO-Modell haben zahlreiche Länder aus guten Gründen Probleme und wenden es daher nicht an.
Warum gibt es Kritik am WHO-Nährwertmodell?
In einer wissenschaftlichen Studie zu den praktischen Auswirkungen des Modells der WHO Europa und der darin vorgeschlagenen Maximalmengen wird davon ausgegangen, dass dessen Anwendung zu einem umfassenden Marketing- und Werbeverbot für rund 70 Prozent der untersuchten Lebensmittel führen würde (Vgl. Storcksdieck/Robinson/Wollgast/Caldeira, The ineligibility of food products from across the EU for marketing to children according to two EU-level nutrient profile models, PLOS ONE). Im Bereich Frühstückszerealien dürften beispielsweise 574 von untersuchten 721 Produkten, also 80 Prozent, generell nicht mehr beworben werden. Von insgesamt 674 untersuchten auf dem Markt erhältlichen Joghurts dürften 513 Produkte (76%) generell nicht mehr beworben werden (siehe Storcksdieck/Robinson/Wollgast/Caldeira).
Im Oktober 2022 wurde ein Bericht veröffentlicht, der sowohl Vorschläge für aktualisierte Nährwertkriterien als auch eine quantitative Auswertung der Anteile von Produkten, die die Nährwertkriterien aus 2015 erfüllen bzw. nicht erfüllen enthält (Quelle). Auch dieser Bericht beinhaltet u.a. Daten dazu, wie viel Prozent der Produkte aktuell unter Anwendung des WHO-Modells noch z.B. in der Türkei oder UK beworben werden dürfen (S.9):
Türkei: 84,9 Prozent der untersuchten Produkte erfüllen die Kriterien nicht, 15,1 Prozent erfüllen die Kriterien und dürften damit beworben werden.
UK: 68,0 Prozent der untersuchten Produkte erfüllen die Kriterien nicht, 32,0 Prozent erfüllen die Kriterien und dürften beworben werden.
Darüber hinaus teilt das WHO-Modell Lebensmittel pauschal ein, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass für eine ausgewogene Ernährung nicht der Verzehr einzelner Lebensmittel relevant ist, sondern das Ernährungsmuster – also das, was insgesamt an Lebensmitteln im Alltag konsumiert wird. Der Verzehr einzelner Lebensmittel ist dem Stand der Ernährungswissenschaft folgend nicht für die Entwicklung von Übergewicht verantwortlich – es gibt keine „guten“ und „schlechten“ Lebensmittel, vielmehr finden alle Lebensmittel in einer ausgewogenen Ernährung ihren Platz – es kommt auf die richtige Menge und Mischung an.
Eine Vielzahl von wirkmächtigeren Faktoren ist entscheidender für Ernährungsmuster und Übergewicht: der (familiäre) Lebensstil, das Rollenvorbild der Eltern, Bewegungsarmut und ein sitzender Lebensstil sowie soziodemographische Faktoren und die vorgeburtlichen und frühkindlichen Bedingungen der ersten 1.000 Tage.
Insgesamt war das Verfahren bei der Erarbeitung des WHO-Nährwertprofils intransparent. Es wird auf die nationalen Modelle aus Norwegen und Dänemark verwiesen und erläutert, dass jeweils der „strengere“ Grenzwert verwendet wurde. Warum diese Entscheidung getroffen wurde, bleibt unklar.
Laut Foodwatch sind das die „sieben absurdesten Argumente gegen Werbeschranken“ – und hier sind die Fakten, die die Argumente gegen weitreichende Werbebeschränkungen belegen:
WEITERLESEN1. Der Einfluss von Werbeschranken auf das Ernährungsverhalten und Übergewicht bei Kindern ist nicht belegt.
Foodwatch behauptet:
Lebensmittelwerbung beeinflusst nachweislich das Ernährungsverhalten und die Kaufvorlieben von Kindern. Internationale Daten zeigen: In Staaten mit verbindlichen Werbeverboten ist der Junkfood-Verkauf in den Jahren 2002 bis 2016 um knapp neun Prozent zurückgegangen. In Ländern ohne solche Regelungen ist er im gleichen Zeitraum um knapp 14 Prozent gestiegen. Dass es noch keine belastbaren Studien zum Effekt von Werbung auf die Übergewichtsreduktion gibt, liegt allein daran, dass umfassende Werbebeschränkungen in anderen Ländern noch nicht lange in Kraft sind und repräsentative Daten zur Gewichtsentwicklung bei Kindern nur selten erhoben werden. Es ist aber wissenschaftlich klar belegt: Junkfood-Werbung führt zu mehr Junkfood-Konsum bei Kindern.
Fakt ist:
Es gibt keine belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit der Werbebeschränkungen auf die Gesamternährung und die Entwicklung von kindlichem Übergewicht: Zu diesem Ergebnis kommt selbst die wissenschaftliche Behörde des BMEL, das Max Rubner-Institut (MRI). So hat eine Internetrecherche des MRI für 17 ausgewählte europäische Länder gezeigt, dass für die Länder, in denen Produkte mit hohen Fett-, Zucker- und Salzgehalten anhand von verschiedenen Nährwertprofilmodellen eingeordnet und von der Bewerbung ausgeschlossen oder eingeschränkt sind, keinerlei Wirksamkeitsstudien in Bezug auf die Gewichtsentwicklung von Kindern gefunden werden konnten. (Quelle)
Ziel der Werbeverbote soll die Reduzierung von kindlichem Übergewicht sein. Foodwatch argumentiert aber, dass Werbebeschränkungen zu einem Rückgang des Absatzes von sogenanntem „Junkfood“ – im Übrigen kein wissenschaftlicher Begriff – führen würde. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen.
Die These, dass Werbebeschränkungen nicht ausreichend lange in Kraft sind, um belastbare Studien zu dem Thema durchzuführen ist schlicht falsch. In UK beispielsweise sind die Werberegulierungen bereits seit 2007/2008 und 2017 in Kraft – also 15 bzw. 5 Jahre: Effekt keiner, so die Übergewichtsdaten NCMP Dataset, NHS Digital. (Quelle)
Auch laut Antwort der Parlamentarischen Saatsekretärin Dr. Manuela Rottmann gibt es keine belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit der Werbebeschränkungen auf die Entwicklung von kindlichem Übergewicht: (Quelle)
WEITERLESEN2. Die Finanzierung von Medien und Sport ist durch Werbeschranken in Gefahr.
Foodwatch behauptet:
Weder Sport- noch Medienfinanzierung ist allein von der Werbung für Fett- und Zuckerbomben abhängig. Eine Auswertung der WHO zeigt, dass etwa für ein Drittel der Lebensmittel auf dem Markt weiterhin uneingeschränkt geworben werden dürfte – genau wie für alle anderen Produkte wie Körperpflege, Spielwaren, Möbel oder Versicherungen.
Fakt ist:
Die Finanzierung von Medien und Sportangeboten ist durch die geplanten BMEL-Werbeschranken tatsächlich in Gefahr: Mit der WHO-Bezugnahme würden rund 70 Prozent des Lebensmittelangebots produktseitig erfasst. Es darf nach den WHO-Kriterien dann zum Beispiel nicht mehr für Gouda, Butter oder Speiseeis geworben werden. Und dieses Verbot soll nach dem Entwurf des BMEL nicht nur gegenüber Kindern gelten, sondern z.B. im Hörfunk und TV von 6 bis 23 Uhr, also klar auch gegenüber Erwachsenen. Genau wie für alle anderen Produkte wie Körperpflege, Spielwaren, Möbel oder Versicherungen trägt auch die Lebensmittelwerbung zur Vielfalt, Qualität und Staatsferne von Medien-, Sport- und Kulturangeboten bei. Diese sind ohne Werbeerlöse nicht finanzierbar – und für die Mehrheit der Haushalte nicht erschwinglich. Für einen Großteil der privaten Medien in Deutschland ist Werbung die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle und damit unverzichtbar für die Erstellung von Inhalten. Dazu zählt die zuverlässige Versorgung der Bevölkerung mit Informationen als Gegengewicht zu Desinformation und Fake News ebenso wie im Übrigen Beiträge zu ausgewogener Ernährung, Gesundheit und Bewegung.
Seit es beispielsweise in Großbritannien verboten ist, im Umfeld von Kindersendungen für bestimmte Lebensmittel zu werben, ist der Produktionsmarkt von Kinderfernsehsendungen um rund 25 Prozent eingebrochen. ITV hat sein Kinderprogramm (CITV) seitdem eingestellt. (Quelle)
WEITERLESEN3. Bewegungsförderung ist ein besserer Ansatz, um Übergewicht zu bekämpfen.
Foodwatch behauptet:
Die einseitige Fokussierung auf das Thema Bewegungsförderung ist ein Ablenkungsmanöver der Lebensmittelindustrie. Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. So nennt die Weltgesundheitsorganisation sowohl Werbebeschränkungen und fiskalische Maßnahmen wie eine Limo-Steuer als auch Maßnahmen zur Steigerung körperlicher Aktivität als zentrale Ansätze zur Bekämpfung der Adipositas-Epidemie.
Fakt ist:
Die Übergewichtszahlen bei Kindern sind im Coronajahr 2020 laut Befragungen gestiegen, während die Werbespendings für Lebensmittel gesunken sind. Der Bewegungsmangel ist, wie Studien nachgewiesen haben, einer der Hauptgründe: 44 Prozent der Kinder aus sozial niedriger Schicht haben sich in der Coronazeit weniger bewegt als vor der Pandemie. (Quelle) Laut DAK-Präventionsradar 2022 verbringen Schulkinder im Durschnitt rund zwölf Stunden täglich im Sitzen. Bekanntermaßen gab es in der Lockdownzeit auch keinen Schul- und Vereinssport, der Weg zur Schule oder Kita entfiel und auch Spielplätze wurden zeitweise geschlossen.
Das Thema Ernährungsbildung wird erstaunlicherweise gar nicht angesprochen. Die Förderung einer bedarfsgerechten Ernährung, die Vermittlung von Ernährungsbildung und praktischer Ernährungskompetenz, u.a. in den Schulen und durch die Eltern, sowie die Bereitstellung von ausgewogenen Mahlzeiten in Kitas und Schulen, sind wichtige Hebel bei der Bekämpfung von kindlichem Übergewicht.
Laut einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung halten namhafte deutsche Medienpädagogen wie Stefan Aufenanger (2007) die Forderung nach der Abschaffung von TV-Werbung für kontraproduktiv. Der Medienpädagoge von der Universität Mainz bescheinigt den Kindern von heute eine hohe „Werbekompetenz“: „Auch wenn das Werbeangebot für Kinder und mit Kindern wächst, sollte man Kinder nicht als Opfer der Werbung darstellen“. Sie müssten deshalb vom Fernsehen nicht grundsätzlich ferngehalten werden. Ein Verbot von Kinderwerbung, so Aufenanger, würde den Kindern zudem „die Möglichkeit nehmen, Erfahrungen im Umgang mit Werbung zu sammeln“, denn „nur in der aktiven Auseinandersetzung mit Medienangeboten können Kinder Medien- und damit Werbekompetenz erwerben“. Konstruktiver als ein Verbot sei es, Kindern Hilfestellungen zu geben, die Werbung als solche zu erkennen; Kinder müssten lernen zu hinterfragen, warum es Werbung gibt“. (Quelle)
WEITERLESEN4. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, für eine gesunde Ernährung der Kinder zu sorgen.
Foodwatch behauptet:
Selbstverständlich liegt es in der Verantwortung der Eltern, für eine gesunde Ernährung der Kinder zu sorgen. Aber warum sollten Eltern weiter gegen eine milliardenschwere Werbeindustrie ankämpfen müssen, die mit perfiden Marketingtricks ihre Kinder auf allen Kanälen mit Junkfood lockt? Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht. Daher sollte die Gesundheit der Kinder durch eine Regulierung vor schädlichen Einflüssen geschützt werden, genauso wie es auch beim Alkohol- und Tabakwerbeverbot geschehen ist. Der Staat darf besonders solche Kinder nicht im Stich lassen, in deren Elternhaus eine gesunde Ernährung nicht gewährleistet ist.
Fakt ist:
Im privaten Umfeld liegt die Verantwortung bei den Eltern, ergab eine vom ZAW in Auftrag gegebene Studie: Der Umgang mit Ernährung im Elternhaus (Einkauf, Kochen, Mahlzeiten) ist nach der klar überwiegenden Elternmeinung der bestimmende Aspekt dafür, dass Kinder übergewichtig sind. Für 80 Prozent der Eltern spielt die familiäre Ernährungsumgebung eine „sehr große“ oder eine „eher große Rolle“. Entgegen der Meinung von Kampagnenorganisationen sehen Eltern in der Werbung die geringste Ursache für Übergewicht, selbstkritisch sehen sie bei sich selbst die Ursache für mögliche Fehlentwicklungen. (Quelle ZAW)
Übergewicht und Adipositas ist in sozio-ökonomisch benachteiligten Bevölkerungskreisen überproportional ausgeprägt. Mit Werbeverboten wird die Lebens- und Ernährungsrealität in benachteiligten Familien jedoch nicht nachhaltig verbessert, hier braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, wie Public Health-Analysen (Quelle) und die Erfahrungen aus Ländern wie Großbritannien zeigen (Quelle). Mit Blick auf die besonderen Möglichkeiten des Staates bei der Gemeinschaftsverpflegung in Kitas und Schulen für eine bessere Ernährungsumgebung Sorge zu tragen und eine proaktive Ernährungsbildung aufzusetzen, wären hier die richtigen Hebel. Jedoch ist Bildung Ländersache und die Umsetzung der DGE-Standards in der Gemeinschaftsverpflegung auch.
Für das Ernährungsverhalten von Kindern spielt Werbung nur eine untergeordnete Rolle, größeren Einfluss haben das soziale Umfeld und die Familie. Genauso wenig hat Werbung einen Einfluss auf den familiären Entscheidungsprozess bei der Ernährung. Kinder können von ihrem Taschengeld Lebensmittel erwerben und sie sind Marktteilnehmer, ohne Frage, sie tätigen aber weder den Haushaltseinkauf, noch entscheiden sie, was, wann und wie oft zubereitet und gegessen wird. Darüber entscheiden die Eltern.
WEITERLESEN5. Der Anteil der Kinder unter den Fernsehzuschauern zur abendlichen Primetime ist sehr gering.
Foodwatch behauptet:
Kinder schauen laut Daten der AGF Videoforschung insbesondere abends Fernsehen. Jede dritte der von Kindern meistgesehenen Sendungen ist kein Kinderprogramm, sondern ein abends ausgestrahltes Sport- oder Unterhaltungsformat. Eine Untersuchung der Universität Hamburg hat gezeigt, dass TV-nutzende Kinder zur abendlichen Primetime im Durchschnitt fünf Werbespots für ungesunde Lebensmittel sehen.
Fakt ist:
Laut AGF-Daten sind 98 Prozent der Primetime-Zuschauer über 14 Jahre alt, dementsprechend nur 2 Prozent zwischen 3 und 13 Jahre alt – das gilt übrigens für alle 365 Tage im Jahr und über alle Fernsehsender hinweg. Der Löwenanteil der Sendungen mit einer hohen Sehbeteiligung der 3- bis 13-Jährigen ist werbefrei – entweder laufen diese Sendungen auf dem grundsätzlich werbefreien Kika oder – wie Fußball – bei ARD und ZDF nach 20 Uhr. Die selbst erhobenen, intransparenten Zahlen im Projektbericht der Universität Hamburg sind keine marktüblichen, anerkannten Daten wie die der AGF. (Quelle Uni Hamburg)
WEITERLESEN6. Werbeverbote sind Bevormundung.
Es geht nicht um Verbote von bestimmten Lebensmitteln, sondern um den Schutz der Kinder vor schädlichem Marketing – ähnlich wie beim Tabak- und Alkoholwerbeverbot. Kein Kind wird mündiger oder aufgeklärter, nur weil es mit Junkfood-Werbung bombardiert wird.
Fakt ist:
Der ZAW teilt die Zielsetzung, Übergewicht bei Kindern zu bekämpfen und trägt durch den Deutschen Werberat der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern bei der (Lebensmittel)werbung Rechnung. Die Werbewirtschaft hat dazu die Verhaltensregeln 2021 noch einmal verschärft und setzt sie durch: Aussagen und Inhalte, die einer ausgewogenen Ernährung entgegenstehen, sind in der Lebensmittelwerbung gegenüber Unter-14-Jährigen nicht zulässig. (Quelle Werberat)
Kinder zu mündigen Bürgern mit Medien- und Werbekompetenz zu erziehen ist eine Aufgabe, die nicht mit Verboten zu erreichen ist. S. Punkt 3, (Quelle). Die Bereinigung der Medien und Außenwerbung um Werbung für HFSS-Produkte führt auch nicht dazu, dass Kinder mündiger oder aufgeklärter sind. Hier hilft, wie oben bereits erwähnt, Ernährungsbildung.
WEITERLESEN7. Das WHO-Nährwertprofil ist nicht umsetzbar und schließt bestimmte Produkte zu Unrecht von der Werbung aus.
Foodwatch sagt:
Das WHO-Nährwertprofil ist international anerkannt und explizit für die Regulierung des Kindermarketings entwickelt worden. Andere Länder wie Spanien, Österreich und Portugal nutzen es bereits. Eine Auswertung der WHO hat ergeben: 27 Prozent der Lebensmittel dürften gemessen an dem kürzlich aktualisierten WHO-Modell weiter an Kinder beworben werden – so z.B. Kellogg’s Cornflakes, ungesalzene Reiswaffeln, Studentenfutter oder auch alle ungesüßten Tees und Erfrischungsgetränke. Man kann über einzelne Grenzwerte streiten, aber das ist kein Argument gegen das Modell als solches. Das Bundesernährungsministerium plant übrigens nationale Anpassungen des WHO-Profils. So soll auch die Werbung für Vollfett-Milch und für 100%-Säfte weiter erlaubt sein.
Fakt ist:
Das WHO-Verbotsmodell ist weder ein verbreiteter noch erfolgreicher Politikansatz und ist nicht Bestandteil verbindlicher europäischer Regulierung und Gesetzgebung. Es ist nicht Grundlage der Regulierung wie auch der Selbstregulierung zur Werbung in Spanien und Österreich. In Österreich gab es lediglich eine Empfehlung der Ernährungskommission (diese kann keine Verordnungen/Werbeverbote verhängen), in Spanien gibt es derzeit keine Regelungen, sie werden nur diskutiert (Quelle). Mit dem WHO-Modell haben zahlreiche Länder aus guten Gründen Probleme, auch in Portugal wird es nur modifiziert herangezogen.
Wie die KiGGs-Daten des RKI zeigen, sind die Kinder nicht ‚aktuell‘ zu 15 Prozent von Übergewicht betroffen, sondern dieser Wert liegt stabil seit der ersten Erhebung zwischen 2003 und 2006 bei diesem Wert (Quelle RKI). Selbstverständlich sehen auch die Werbe- und Ernährungswirtschaft eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe in der Übergewichtsprävention – aber mit zielführenden Maßnahmen. Ernährungsbildung im Elternhaus, die Verbesserung von Kita- und Schulkantinenessen sowie Bewegungsförderung sind hier die ersten Hebel.
Die vom BMEL vorgelegte Evidenz zur Wirksamkeit von Werbeverboten ist so schwach wie die Aussage zum eigenen Entwurf irreführend ist – „Niemand verbietet Werbung.“
WEITERLESENZur Erinnerung: Das Ministerium hat bereits eingestanden, dass es über keine Wirksamkeitsstudien verfügt, die die Reduktion von kindlichem Übergewicht durch gesetzliche Werbeverbote belegen – trotz intensiver Suche der beauftragten Forscher beim Max Rubner-Institut. Die aktuelle „Beweisführung“ von Bundesminister Özdemir ist deshalb (bestenfalls) indirekt, meistens anekdotisch und häufig moralisch aufgeladen. Die Interviews des Bundesministers (Pioneer, Table) legen wortreich Zeugnis dafür ab. Was aber sagt die Evidenz zu Werbeverboten? Cochrane Deutschland, eine Institution, wenn es um Faktentreue und evidenzbasierte Entscheidungen geht, hat genau diese Frage gestellt und stellt fest: „Cochrane-Evidenz exakt zu dieser Fragestellung gibt es leider nicht.“ Und weiter: „Ob ein Werbungsverbot für ungesunde Lebensmittel seinen Zweck erfüllen wird, lässt sich auf Basis der bisherigen Studienlage kaum beantworten.“ Was sich die von Kampagnenbündnissen angeführten Studien und die daraus gebildeten Narrative entgegenhalten lassen müssen.
Auch die weiteren Aussagen von Cochrane sind für die Sinnhaftigkeit und (ja auch!) die rechtliche Tragfähigkeit der großflächigen Verbote bedeutsam: „Allerdings bleibt unklar, wie groß der Beitrag jeder einzelnen Maßnahme war, weil es an aussagekräftigen Studien mangelt.“ Die Aussage bezieht sich konkret auf die Frage, welche Effekte den mannigfaltigen staatlichen Maßnahmen bei der Eindämmung des Tabakkonsums (Rauchverbote, Steuern, Ausweispflicht, Aufklärungskampagnen und Werbeverbote) jeweils zugeschrieben werden kann. Sie bilanziert nüchtern, dass dies nicht ermittelbar ist. Womit nicht nur der immer wieder gebrachte Verweis des Bundesministers auf das Tabakwerbeverbot ins Leere läuft – von den bei unverstellter Betrachtung ins Auge springenden grundsätzlichen Unterschieden zwischen dem Verzehr von Lebensmitteln und dem Konsum von Tabak einmal abgesehen.
Was also tun, wenn es um die Einschätzung des BMEL-Vorschlags und der Behauptung positiver Wirkungen von Werbeverboten geht? Wir empfehlen einen Blick auf die Realität, auf Länder, die Werbeverbote schon vor Jahren verhängt haben. Hier das Beispiel UK: In Großbritannien sind fast 38 Prozent der 10- bis 11-jährigen Kinder übergewichtig, 22 Prozent davon sogar adipös. Nach 15 Jahren Werbeverboten beträgt der Beitrag gesetzlicher Werbeverbote laut „Impact Assessment“ zwei Kilokalorien pro Tag und Kind. Zum Nachlesen hier die Daten aus dem Jahr 2021/2022 des National Child Measurement Programme. Zum Vergleich: In Deutschland sind laut Robert Koch Institut (KiGGS-Welle 2) ca. 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen übergewichtig, davon knapp 6 Prozent adipös.
Für die Anhänger des Standardarguments, die Werbewirtschaft täusche, weil sie behaupte, dass Werbung nicht wirke, während sie in Wahrheit schließlich Millionen für die Bewerbung ausgegeben würden: Es gibt einen Unterschied zwischen dem deutlichen Mangel an Evidenz für die Wirksamkeit von Werbebeschränkungen auf die Gesamternährung (den kategorialen Verzehr von Salz, Zucker und Fett) und die Reduktion von kindlichem Übergewicht und nachgewiesenen (vom ZAW nie bestrittenen und gut belegten) Werbewirkungen auf anderen Ebenen. Letztere sind auch im Artikel von Professor Dr. Justus Haucap in der Rheinischen Post nachzulesen.
In den fachwissenschaftlichen Studien zu den Auswirkungen von Werbung und Werbeverboten auf das Konsumentenverhalten wird eine Einflussnahmemöglichkeit von Werbung, namentlich durch die Steigerung der Markenwiedererkennung und des -images grundsätzlich anerkannt. Allerdings bewirkt dies nach den Befunden grundsätzlich keinen Mehrkonsum. Bei reifen und gesättigten Produktkategorien, wie beispielsweise Süßigkeiten, konnte kein Kategorie-Mehrkonsum festgestellt werden, der durch Werbung ausgelöst wurde. In gesättigten Märkten ist vielmehr der primäre Effekt, bestehende Marktanteile zu verteidigen und Konsumenten von Konkurrenzmarken abzuwerben. Entsprechend lassen sich auch keine Rückschlüsse eines etwaigen Mehrkonsums bei Steigerung der Werbeausgaben aus Vergleichsuntersuchungen z.B. zu Süßwarenwerbeausgaben und Süßwarenkonsum schließen.
Übrigens: Zweck der Vorschläge des BMEL soll sein, Kinder „beim Erlernen eines gesundheitsförderlichen Ernährungsverhaltens zu unterstützen und so einen Beitrag zu ihrem Schutz vor ernährungsmitbedingten Krankheiten zu leisten“, § 1 KWG-E. Die Zielsetzung ist makellos. Die Mittel – gesetzliche Werbeverbote – sind angesichts der komplexen, durchweg aber lebenspraktischen Ursachen von kindlichem Übergewicht, nur als Symbolpolitik zu begreifen. Das leuchtet nicht nur unmittelbar ein, es entspricht ihrer praktischen Lebenserfahrung, wenn sie die maßgeblichen Einflussfaktoren benennen.
Geht es um die wirksamen Hebel, bleibt das BMEL sehr viel, beim Thema Bewegung nahezu alles, schuldig, die angekündigte Ernährungsstratgie eingeschlossen. Dabei sind erfolgversprechende Ansätze mit großer Wirkung nicht schwer zu entdecken – und gut belegt, wie Cochrane zum Bespiel für Maßnahmen zur Förderung einer gesunden Ernährung und zur Steigerung körperlicher Aktivität bei Kindern und Jugendlichen belegt: Für alle Altersklassen, vom Kleinkind bis zum Jugendlichen, gilt hiernach, dass nur Interventionen, die gleichzeitig sowohl auf mehr körperliche Aktivität, als auch bessere Ernährungsangebote abzielten, das Risiko von Adipositas senken.“
Quellen:
Bundestag.de (S. 59)
Werbeverbote schaden der Medienvielfalt. Die vermeintlich einfache Lösung ist einfach keine Lösung. Sie hat aber gravierende Nebenwirkungen auf unsere Medienvielfalt.
WEITERLESENWerbeverbote stellen einen tiefgreifenden Eingriff in die Refinanzierungsfreiheit der Medien dar. Für einen Großteil der privaten Medien in Deutschland ist Werbung die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle und damit unverzichtbar für die Refinanzierung von Inhalten. Dazu zählen nicht nur zahlreiche Beiträge zu ausgewogener Ernährung, Gesundheit und Bewegung, sondern auch die zuverlässige Versorgung der Bevölkerung mit Informationen als Gegengewicht zu Desinformation und Fake News.
Umfassende Werbeverbote und -beschränkungen für Lebensmittel hätten nicht nur gravierende negative Auswirkungen auf die ohnehin krisenbelasteten Medienanbieter selbst, sondern auf die Informations-, Meinungs-, Presse- und Medienvielfalt in Deutschland insgesamt. Gleichzeitig hat das Bundesernährungsministerium vor kurzem selbst deutlich gemacht, dass es bisher keine wissenschaftlichen Studien gibt, die quantifizierbar belegen würden, dass Werbeverbote für bestimmte Lebensmittel zu einer Reduzierung von Übergewicht führen. Vor diesem Hintergrund ist dringend ein evidenzbasierter und übergreifender Blick auf die Lebensmittelwerbung geboten, der die tatsächlichen Auswirkungen auf die Gesundheit und das gesamtgesellschaftliche Umfeld betrachtet.
Quelle:
Bundestag.de (S. 59)
Wer ist verantwortlich für eine ausgewogene Ernährung unserer Kinder? „Die Eltern!“, sagen die Eltern.
WEITERLESENIm privaten Umfeld liegt die Verantwortung bei den Eltern, bezeugen die Erziehungsberechtigten. Und sehen selbstkritisch auch bei sich selbst die Ursache für mögliche Fehlentwicklungen. Eine vom ZAW in Auftrag gegebene Studie ergab: Der Umgang mit Ernährung im Elternhaus (Einkauf, Kochen, Mahlzeiten) ist nach der klar überwiegenden Elternmeinung der bestimmende Aspekt dafür, dass Kinder übergewichtig sind. Für 80 Prozent der Eltern spielt die familiäre Ernährungsumgebung eine „sehr große“ oder eine „eher große Rolle“. Entgegen der Meinung von Kampagnenorganisationen sehen Eltern in der Werbung die geringste Ursache für Übergewicht.
Gefragt nach der Rangfolge innerhalb der Faktoren, denen Eltern eine „sehr große“ oder „eher große Rolle“ für Übergewicht zuschreiben, sehen die Befragten Influencer:innen in sozialen Netzwerken und Lebensmittelwerbung mit Abstand auf den zwei letzten Plätzen. Nur 11 bzw. 10 Prozent meinen, dass hiervon wesentliche Impulse für das Übergewicht von Kindern ausgehen. Dem entspricht die besondere Vorbildrolle, die Eltern nach eigener Wahrnehmung ihrem Verhalten (Einkauf, Kochen, Mahlzeiten) zusprechen.
Die wichtigsten Handlungsfelder, um kindliches Übergewicht zu bekämpfen, sind nach der Elternbefragung der Umgang mit Ernährung zu Hause bzw. das elterliche (Vorbild-)Verhalten (38 %). Mangelndes elterliches Ernährungswissen bzw. zu wenig Bewegung und zu wenig Schulsport folgen als weitere Top-Nennungen (29 bzw. 25 %).
Auch Fakt: Bei der absoluten Mehrheit der Mütter und Väter in Deutschland ist Lebensmittelwerbung erwünscht, 71 Prozent möchten mittels Werbung über Produktneuheiten und Innovationen im Lebensmittelbereich informiert werden.
Quelle:
ZAW.de
Lebensmittelwerbung muss reguliert werden?! Das ist sie bereits!
WEITERLESENLebensmittelwerbung ist in Deutschland bereits umfassend gesetzlich und selbstregulativ reguliert. Die EU und Deutschland haben sich im Rahmen der Novellierung der EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Rili) ausdrücklich für eine Stärkung der Werbeselbstregulierung entschieden. Erst im Jahr 2020 wurde der Jugendmedienschutzstaatsvertrag in § 6 um den Absatz 7 und das Thema Lebensmittelwerbung erweitert. Insgesamt ist der deutsche Gesetzgeber schon vorher bei der nationalen Umsetzung über die AVMD-Richtlinie hinausgegangen, da Kindersendungen nach dem Medienstaatsvertrag nicht durch Werbung unterbrochen werden dürfen, was nach europäischem Recht zulässig wäre.
Über die Selbstregulierung durch den Deutschen Werberat und hier insbesondere die „Verhaltensregeln des Deutschen Werberats zur kommerziellen Kommunikation für Lebensmittel“ übernimmt die Werbewirtschaft zusätzlich Verantwortung für den Inhalt ihrer Werbung. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, dass Unter-14-Jährige sowohl Ernährungs- als auch Werbekompetenz erst noch erwerben müssen. Deshalb gibt es strikte Vorgaben, welche Inhalte bei Werbung an diese Altersgruppe transportiert werden dürfen und welche nicht. Diese Selbstregulierung wird im Deutschen Werberat von der gesamten Werbewirtschaft – den Werbetreibenden, den Medien und den Agenturen – getragen und funktioniert seit nunmehr 50 Jahren äußerst effektiv.
Im Jahr 2022 hat der Deutsche Werberat über rund 400 Werbemaßnahmen entschieden, von denen nur drei Fälle in den Bereich der Lebensmittelwerbung fielen. Hauptbeschwerdevorwurf beim Werberat war und ist seit Jahren Sexismus. Die entsprechenden Unternehmen haben reagiert und die Werbung entweder geändert oder zurückgezogen; nur 8 der rund 400 Fälle wurden öffentlich gerügt. Die Durchsetzungsquote des Werberats liegt seit Jahren über 90 Prozent.
Quellen:
kjm – Kommission für Jugendmedienschutz (Fassung von Dezember 2021)
Werberat.de (Fassung von Juni 2021)
Weniger Lebensmittelwerbung = weniger übergewichtige Kinder?!? Die Gleichung geht nicht auf. Für komplexe Probleme gibt es schlicht keine einfachen Lösungen.
WEITERLESENKindliches Übergewicht hat viele Ursachen: Kaum Ernährungskompetenz bei den Kindern und in den Familien, unausgewogene Ernährung und Bewegungsmangel – bei diesen Ursachen können wir erfolgreich ansetzen.
Ein Werbeverbot ist nachweislich kein Hebel. Beispiel Großbritannien: Hier sind die Übergewichts- und Adipositasraten seit der Einführung von Werbeverboten in 2007 unverändert. Beispiel Südkorea: Trotz der Einführung des Werbeverbots im Jahr 2010 sind Übergewicht und Adipositas laut den Messungen der National School Health Examination (NSHE) gestiegen. So wuchs die Prävalenz der Adipositas bei Kindern im Alter von 6 bis 18 Jahren von 11,7 Prozent im Jahr 2010 auf 15 Prozent im Jahr 2017, die des Übergewichts stieg im selben Zeitraum von 7,9 Prozent auf 8,7 Prozent. Gemäß den Messungen des Korea National Health and Nutrition Examination Survey (KHNANES) ist ein nachhaltiger Effekt von Werbeverboten ebenfalls nicht auszumachen: Bei Kindern im Alter von 2 bis 18 Jahren lag die Adipositas-Prävalenz bei der ersten Messung im Jahr 2001 bei 8,6 Prozent und stieg bis 2007 auf 10 Prozent. Danach sank sie bis 2009 auf 8,6 Prozent, hatte sich bei der Einführung des Werbeverbots 2010 allerdings auf 10,3 Prozent erhöht. Nachdem sie in den folgenden drei Jahren sank (10,1% /8,7% / 8,6%), stieg sie ab 2014 drei Jahre in Folge (9,4% /9,9% 10,2%). Im Jahr 2017 – sieben Jahre nach Verhängung des Verbots – lag sie bei 9,8 Prozent Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Übergewichtsprävalenz, sie lag 2010 bei 9,0 Prozent, 2016 war sie auf 7,7 Prozent gesunken, bis 2017 allerdings auf 8,8 Prozent wieder angestiegen. Die Länderbespiele bestätigen die Aussage des BMEL, wonach keine Erkenntnisse vorliegen, die die Wirksamkeit von gesetzlichen Werbeverboten zur Verminderung von Übergewicht- und Adipositasraten bei Kindern belegen (Quelle). (Tabellarische Darstellung s. Quellen unten, detaillierter hier im Text ausgeführt am 15.02.2023)
Nachweislich erfolgreich sind diese Maßnahmen:
• Ernährungsbildung. So können informierte Bürger:innen und Eltern die richtigen Entscheidungen am Regal treffen.
• Förderung von Bewegung durch mehr Spielplätze und bezahlbare Sportmöglichkeiten.
Quellen:
NHS UK
jomes – Journal of Obesity & Metabolic Syndrome